Gibt es ein Leben nach der Geburt?
von Pablo J. Luis Molinero. Hier zunächst die Kurzfassung:
Ein ungeborenes Zwillingspärchen unterhielt sich im Bauch seiner Mutter:
"Sag mal, glaubst du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?" fragt der Zwillingsbub.
"Ja, auf jeden Fall! Hier drinnen wachsen wir und werden stark für das, was draußen kommen wird," antwortet das Zwillingsmädel.
"Ich glaube, das ist Blödsinn!" sagt der Bub. "Es kann kein Leben nach der Geburt geben – wie sollte das denn bitte schön aussehen?"
"So ganz genau weiß ich das auch nicht. Aber es wird sicher viel heller als hier sein. Und vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen?"
"So einen Unsinn habe ich ja noch nie gehört! Mit dem Mund essen, was für eine verrückte Idee. Es gibt doch die Nabelschnur, die uns ernährt. Und wie willst du herumlaufen? Dafür ist die Nabelschnur viel zu kurz."
"Doch, es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles nur ein bisschen anders."
"Du spinnst! Es ist noch nie einer zurückgekommen von 'nach der Geburt'. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Punktum."
"Ich gebe ja zu, dass keiner weiß, wie das Leben nach der Geburt aussehen wird. Aber ich weiß, dass wir dann unsere Mutter sehen werden und sie wird für uns sorgen."
"Mutter??? Du glaubst doch wohl nicht an eine Mutter? Wo ist sie denn bitte?"
"Na hier – überall um uns herum. Wir sind und leben in ihr und durch sie. Ohne sie könnten wir gar nicht sein!"
Bub und Mädel – Gibt es ein Leben nach der Geburt?
Kompletter Originaltext von Pablo J. Luis Molinero
Zum ersten Mal war Bub sich seiner selbst bewusst.
Er hatte schon seit einiger Zeit existiert; aber bis jetzt hatte sein Gehirn noch nicht genügend Energie produziert, dass er sich seiner eigenen Existenz bewusst sein konnte.
Aus einer kurzen mentalen Überlegung schloss er, dass er aus einem Kopf bestand, wo die wirkliche Hauptessenz seines Daseins beheimatet war. Darüber hinaus ein Körper oder Zwischenbehälter, wo Nahrung sich mithilfe eines langen, engen Rohres sammelte.
Ein Organ innerhalb dieses Körpers zog die benötigten Elemente aus der deponierten Nahrung und schickte sie, in speziellen Dosierungen, zum Kopf und dem Rest seines Körpers, so dass sein ganzes Wesen optimal ernährt werde. Außerdem wurden durch denselben erwähnten äußerlichen Schlauch alle Abfallstoffe hinausbefördert.
Dieser Schlauch war langgestreckt, bis er sich plötzlich weiter ausdehnte, um eine alles umschließende Haut zu bilden, die die Grenze seines gesamten Daseins darstellte. Innerhalb ihrer Wände war eine Flüssigkeit enthalten, die dem Kopf und dem Körper erlaubten, in einem weich fließenden Zustand getragen zu werden; vor allem dank einiger Auswölbungen oder Extremitäten, die aus den oberen und unteren Teilen des Körpers entsprangen und ihn befähigen, eine fortwährende, angenehme Balance zu halten.
Eine kurze Pause seiner Gedanken wurde plötzlich von einem Strom von Fragen durchbrochen: Was bin ich in Wirklichkeit? Was mache ich hier? Wo komme ich her? Gibt es noch irgend etwas anderes als das, wessen ich mir bewusst bin? Bin ich allein?
Sein Unbehagen, seine Angst wuchsen allmählich, quälend, aus der Leere, die sich immer weiter in seinem Sinn ausbreitete, weil die Antworten fehlten.
Vielleicht erzeugte diese enorme Beunruhigung genügend telepathische Energie aus seinen Gedanken, um sie, ohne dass er es wusste, als unverständliches Murmeln im Sinn von Mädel ankommen zu lassen, Bubs Zwillingsschwester.
Ohne zu verstehen, was ihr Sinn da empfing, fühlte Mädel, dass da jemand anders in der Nähe war, und deshalb schickte sie eine geistige Frage los: "Wer bist du?"
Diese Millisekunden der Überraschung und des Zweifels, die beide durchlebten, schienen endlos. Bub war sich gar nicht sicher, ob dieses "Wer bist du?", das er mitten in seinem Aufruhr aufgefangen hatte, nicht von seinem eigenen Sinn erzeugt worden war. Er hatte jedoch das Gefühl, dass die Frage ihn von außen erreicht hatte.
Für alle Fälle entschied er schließlich, mit dem Einzigen zu antworten, was er über sich selbst wusste: ein kurzer, knapper Umriss jener Schlüsse, zu denen er bezüglich seiner Anatomie und Physiologie gelangt war; aber im Gegenzug fragte auch er: "Und du, wer bist du?"
Mädels Antwort kam augenblicklich. "Ich bin, mehr oder weniger, genauso wie du dich beschrieben hast, und ich fühle mich dir sehr nahe."
Ermutigt durch ihre Antwort, begann Bub mit einer präziseren Beschreibung seiner selbst und fragte, ob sie auch in all den beschriebenen Einzelheiten mit ihm übereinstimme.
Mädels Antwort erreichte ihn deutlich überglücklich.
"Ich habe schon über meine Existenz nachgedacht, obwohl ich nicht so viele Aspekte unserer verschiedenen Organe bemerkt habe wie du, und ich habe mich bestimmt nicht darum bemüht herauszufinden, ob da irgendjemand in der Nähe ist, der mir gleicht ..." Mädel macht eine kurze Pause, um ihr eigenes Denken und Fühlen zu überprüfen.
"Tatsächlich fühlte ich mich so glücklich, so gemütlich hier zu schweben, ernährt und geliebt von Mutter ..."
"Mutter?" fragte Bub verblüfft und voller Erstaunen, "was ist Mutter?"
"Weißt du nicht, wer Mutter ist?" fragte Mädel, einigermaßen erstaunt über Bubs Befremden, und fürchtete, sie hätte etwas Unangebrachtes gesagt; sie hatte Sorge, sie hätte ihre Gefühle und Überzeugungen zu offenherzig gezeigt, die er offenbar kurios fand, und möglicherweise würde er jetzt über sie lachen; aber ... warum eigentlich?
"... du willst also sagen, dass du Mutter nicht fühlst? Glaubst du nicht an Mutter?"
Bub war überaus überrascht, aber ebenso interessiert. "Nein, tut mir leid; sag mir bitte, was ... oder wer Mutter ist?"
"Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll, es ist schwer zu erklären," antwortete sie zögernd, aber Bubs offensichtliches Interesse ließ sie Mut fassen.
"Für mich ist Mutter diejenige, die uns das Dasein gegeben hat, uns mit Nahrung versorgt, uns am Leben erhält, und sie erwartet uns in dem kommenden Leben, wenn wir geboren sind."
Bub war verblüfft, und er brauchte einige kurze Momente, ehe er reagieren konnte. Er war voller Verwunderung, wie irgendjemand an solche Ideen glauben konnte; sie erschienen ihm völlig unbegründet und überflüssig.
"Wie kann es sein, dass du an jemanden glaubst, den du nicht fühlen kannst, so wie du mich fühlst? Jemanden, mit dem du nicht so kommunizieren kannst, wie du es mit mir kannst? Ich ... ich verstehe das nicht ..., bitte erkläre mir deinen Glauben noch detaillierter, vielleicht kann ich dir klarmachen, wo er danebengeht ... oder vielleicht kannst du mich sogar überzeugen ... (und verschmitzt fügte er hinzu:) ... obwohl ich das ehrlicherweise bezweifle."
Sie ignorierte Bubs spöttischen Ton und antwortete mit Eifer, völlig gefangen von ihrem Thema und zunehmend beflügelt von ihren eigenen Überzeugungen, und so fuhr sie fort:
"Nun, wie ich sagte, Mutter ist für mich das Wesen, das uns Leben geschenkt hat, ein Wesen, das uns umgibt und umhüllt. Wir sind ein Teil von Ihr, ohne Sie selbst zu sein. Ich weiß, dass das schwer zu verstehen ist, und ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber ... so empfinde ich es."
"Erzähl weiter," drängte Bub.
"Mutter hat uns in einem Akt der Liebe erschaffen. Sie möchte, dass wir gesund, stark und gut leben, so dass sie uns, wenn wir geboren und in das andere Leben hinübergewechselt sind, an ihrem Busen aufnehmen kann, so dass wir mit Ihr existieren können, und wir werden sie unmittelbar spüren, anders als du und ich einander spüren, noch näher und realer."
Mädel machte eine kleine Pause und fragte sich, ob er ihren Ideen wohl in allen Einzelheiten folgen würde, ob er ein wenig von dem verstehen würde, was sogar sie selbst nicht verstand, aber sie brauchte es nicht zu verstehen, sie wusste, dass es so war.
"Ja, ja," stimmte Bub zu, als er ihre Zweifel spürte, "sprich weiter, ich werde dir sagen, was mich nicht überzeugt hat, wenn du fertig bist."
"Nun, es ist nicht so, als ob es noch viel mehr zu erwähnen gibt, nur dass all das etwas ist, was ich spüre, und frag mich nicht wie oder warum. Ich fühle Mutter auf eine andere Weise als ich dich fühle, und ich denke, dass Mutter mich auf eine Art spürt und ich mit Ihr kommunizieren kann. Ich mag es, meine Empfindungen an Mutter zu richten, und ich möchte denken, dass Sie mich irgendwie versteht."
"Manchmal mach ich es so:
Unsere Mutter, die du da draußen bist.
Geheiligt sei Dein Name.
Lass Dein Sein kommen,
Deinen Willen hier drin geschehen,
wie auch da draußen.
Gib uns unsere tägliche Nahrung.
Vergib uns unsere Tritte,
so wie wir einander vergeben.
Lass uns nicht im Stich,
und befreie uns von jedem Übel.
Was hältst du davon?"
Mädel war neugieriger auf Bubs Meinung über ihre literarischen Fähigkeiten als über ihre philosophischen Theorien.
Er erfasste die Subtilität ihrer Frage vollkommen. "Das ist hübsch, und wenn es dir etwas bringt ..."
Bub versuchte, sowohl die Gedanken, die er von Mädel bekommen hatte, als auch seine eigenen zu ordnen.
"Wenn ich nichts von dem vergesse, was du mir gesagt hast, werde ich versuchen, dir Punkt für Punkt zu antworten: Ich glaube nicht, dass man eine Mutter braucht, um zu existieren; ich meine, kann nicht eine einfache, einzelne Zelle, die aber alle notwendigen Elemente zum Leben enthält, herumliegen und auf die richtigen Bedingungen warten, um erzeugt zu werden, so dass ihr latentes Leben zur Existenz erwacht?"
"Ich weiß, dass eine lange Zeit vergehen kann, sogar Millionen Millisekunden; aber zu einem bestimmten Moment setzt die Zelle einfach den ganzen biologischen Prozess in Gang, der schließlich gipfelt in der Bildung eines vollständigen Wesens wie uns. All das Geschwafel darüber, dass wir in ihr seien, ohne sie zu sein, ist willkürliche Geheimniskrämerei, während die Dinge doch klar und simpel sind.
Niemand muss sich darum kümmern, uns zu ernähren," fuhr Bub mit seiner Meinung fort. "Nahrung entsteht durch natürliche Prozesse, und unser Herz und unser Wille sorgen dafür, dass sie durch unsere Nabelschnur gezogen und absorbiert wird. Niemand muss sich damit bemühen, uns Nahrung zu geben, denn es ist völlig klar, dass wir uns sie nur wünschen müssen, und wir erhalten sie."
Bub machte eine Pause und wartete kurz, ob sie etwas ausdrücken wollte, aber er merkte, dass sie voller Neugier darauf wartete, dass er fortfuhr.
"Du sagst, dass diese sogenannte Mutter uns erschaffen hat, damit sie uns später in einem besseren Leben als diesem willkommen heißen kann. Denkst du wirklich, dass es nach der Geburt ein anderes Leben gibt? Merkst du nicht, dass das Geborenwerden das Ende von allem ist? Du weißt sehr wohl, dass bei unserer Geburt unsere Haut platzt und all die Flüssigkeit darin, die uns jetzt schweben lässt, verlorengeht, und auch die Schnur, durch die unsere Nahrung kommt, geht kaputt; und du glaubst noch immer, dass es unter solchen Umständen ein anderes Leben geben kann? Ein ziemlich seltsames Leben müsste das sein, um existieren zu können ohne einen Schlauch, um Nahrung zu erhalten, ohne Flüssigkeit, in der man schwebt und die einen vor Stößen und anderem schützt ... ich weiß nicht, wie du zu solch absurden Schlussfolgerungen kommen konntest."
Mädel antwortete nicht, sie wusste nicht, was sie sagen sollte; außerdem war dieser erste Kontakt auch sehr ermüdend, weil sie nicht darin geübt waren; daher beschlossen beide, ihre Kräfte wieder aufzutanken.
Ein starker Fluss von nährstoffreichem Blut erreichte sie durch ihre jeweilige Nabelschnur. Dies gab ihnen Gelegenheit, sich der Freude dieser neuen Nahrungslieferung zu überlassen, während jeder von ihnen noch einmal über alles nachdachte, was sie besprochen hatten.
Nach der Beköstigung fielen sie in einen tiefen Schlaf, der ihren Dialog ziemlich lange unterbrach.
Mädel erwachte zuerst und erkannte sofort, dass Bub noch schlief. Sie bewegte ihre Arme und Beine, um in eine neue Position zu gelangen; dann bemerkte sie, dass sie die drei Öffnungen in ihrem Gesicht öffnen und schließen konnte, die bis jetzt versiegelt geblieben waren.
Überglücklich begann sie ihren Bruder mit starker Gedankenenergie zu rufen: "Bub! Bub!"
Die Intensität dieses Rufs war so groß, dass Bub nichts übrig blieb als aufzuwachen.
"Was ist passiert? Bist du's, Mädel?"
"Ja; die Öffnungen in meinem Gesicht – ich kann sie bewegen! Ich vermute mal, du hast sie auch, oder? Kannst du sie öffnen und schließen?"
Es dauerte lange, bis die Antwort kam; wiederholt strenge sich Bub an, diese angeblichen Öffnungen aufzumachen, aber er schaffte es nicht.
"Ich kann's nicht," sagte er verzweifelt.
"Aber ich," bekräftigte Mädel, "ich konnte es vorher nicht, aber jetzt kann ich es; und etwas Flüssigkeit kommt in meinen Mund, und ich kann sie wieder ausstoßen." Besorgt um ihren Bruder, sagte sie: "Ich nehme an, du wirst das früher oder später auch können ..."
Mädel nahm wahr, dass er sich durch ihre letzte aufmunternde Bemerkung getröstet fühlte, daher versuchte sie ihn noch ein wenig zu ermutigen.
"Die Hauptsache ist, dass du verstehst, das das ein Teil des Verbesserungprozesses sein muss, der nötig ist, damit man das andere Leben erlangen kann."
"Nicht schon wieder!" spottete Bub, ohne seine besorgten Versuche zu unterbrechen, seine hermetisch versiegelten Löcher zu öffnen. "Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Wenn es stimmt, dass wir früher oder später diese Öffnungen benutzen werden können und dass diese Flüssigkeit, in der unser Kopf und unser Körper schwimmt, durch sie hereinkommen kann, dann darum, weil wir die Wirkung dieser Flüssigkeit in unserem inneren Teil auch brauchen."
Bub bemühte sich weiter, sein Öffnungen aufzumachen, und fragte sich, ob alles richtig war, was er ausgedrückt hatte; wenn ja, warum konnte er sie nicht öffnen?
"Aber vergiss nicht," beharrte er, "wenn man geboren wird, verschwindet diese Flüssigkeit, und dann gäbe es keinen Grund für die Existenz dieser Öffnungen, oder Mund und Augen, wie du sie nennst. Siehst du? Du kannst nicht etwas als Teil einer Verbesserung für dieses andre Leben ansehen, was nur in diesem Leben sinnvoll ist; deshalb hast du dieses ganze wirre Durcheinander."
Einige lange Minuten diskutieren sie weiter über ihre unterschiedlichen Standpunkte.
"Wenn dieses Wesen, von dem du behauptest, du könntest es fühlen, wirklich existieren würde," beharrte er, "dann müsste ich doch auch seine Gegenwart bemerken. " Bub machte eine kurze Pause. "Außerdem ist die Existenz dieses Wesens unmöglich; mein Verstand kann nicht begreifen, wie ein Wesen andere Wesen in sich selbst erschaffen und ihnen Leben geben und sie ernähren kann."
Sich nur solch ein Wesen vorzustellen verursachte ihm Beklemmungen, wie eine Art Seekrankheit, weil er es nicht schaffte, sich solch ein unmögliches Wesen auszumalen, fügte Bub mit höhnischer Selbstzufriedenheit hinzu:
"Tut mir leid, aber Leben kommt zu mir durch meinen Nabel."
Sie schwieg, Bubs Aussagen überzeugten sie nicht, aber sie wusste nicht, wie sie sie entkräften sollte. Sie glaubte, dass ihre Aussagen sehr nah an der Wahrheit waren, aber wie konnte sie es jemanden erkennen lassen, der es nicht sehen wollte?... Oder vielleicht wäre es realistischer zuzugeben, dass man niemanden etwas sehen lassen kann, was nicht gesehen werden kann?
Mädel gab es auf. Ihr Geist wurde schwach, und sie begann sogar ihre eigenen Überzeugungen zu bezweifeln. Sie fragte sich, ob sie nicht aus purer Sturheit darauf beharrte, statt zuzugeben, dass die Dinge klar und einfach seien, genau wie Bub logisch argumentiert hatte. Das zuzugeben, erzeugte in ihr jedoch ein störendes, beunruhigendes Vakuum ... nein, sie wollte sich von solchen begrenzten Ideen nicht beeinflussen lassen; aber was dann? Liebe Mutter, was?
Es herrschte eine sehr lange Stille, keiner von beiden konnte einem zu ausgedehnten Dialog standhalten, sie waren nicht daran gewöhnt; ihre Organismen, die eine kontinuierliche Entwicklung durchmachten, benötigten lange und häufige Ruhepausen, Tage um Tage.
Sobald sie aufwachten, suchte einer des anderen Gegenwart und erhielt nahezu immer eine sofortige Antwort; ihre Unterhaltung wurde an genau dem Punkt wieder aufgenommen, an dem sie unterbrochen worden war.
Tage vergingen, viele Tage ..., den größten Teil dieser Zeit ruhten sie; die meisten ihrer Kräfte waren ihrer eigenen Entwicklung gewidmet, aber in wachen Momenten behandelten sie manchmal Themen des Lebens und der Philosophie; manchmal verbrachten sie lange Phasen damit, ihre letzten organischen, anatomischen oder physiologischen Fortschritte zu kommentieren, und andere Male vergnügten sie sich mit Muskelgeschicklichkeitswettkämpfen.
"Ich wette, du kannst deine Hände nicht so schnell öffnen und schließen wie ich!" sagte Bub herausfordernd.
Ohne dass sie zu zählen brauchten (was keiner von beiden konnte), sandten ihre Gehirne Impulse synchron zu den Bewegung oder Übung, in der sie gerade wetteiferten; sie stellten fast immer fest, dass Bubs Rhythmus schneller war als der seiner Schwester.
Trotz dieses Vorteils spürte Bub etwas wie einen Komplex im Vergleich mit ihr, denn stets war es Mädel, die zuerst Veränderungen und Verbesserungen in ihrer Entwicklung spürte, während er in dem Prozess etwas langsamer war.
Die ersten Male hatte er nicht darauf geachtet und gedacht, dass sie ihn nur verulken wolle, wegen ihrer übertriebenen Vorstellungskraft. Nach mehreren Erfahrungen jedoch begriff er, dass es immer so war, denn jedes Mal, wenn sie eine Veränderung ankündigte, musste er verzweifelt beobachten, dass erst einige Zeit vergehen musste, bis er dieselbe Veränderung an sich selbst erlebte. Dieser ärgerliche Umstand ließ ihn noch härter darum kämpfen, Mädels Überzeugungen zu widerlegen.
"Ich stimme nicht zu," beharrte er nervig, "niemand hat uns gemacht; es gibt keine höheren Wesen; du und ich existieren aufgrund des logischen und organisierten Prozessablaufs von Zellen, etc."
Bub, der am Ende mehr an physischen Übungen als an philosophischer Dialektik interessiert war, forderte Mädel oft heraus, um zu sehen, wer fester treten könne. Er liebte es, sie dazu aufzufordern, denn sie weigerte sich immer mit der Begründung, es störe Mutter, und darüber amüsierte er sich sehr; wie könnte er mit einem simplen Tritt ein höheres Wesen stören?
Er liebte diese Übung, je härter und kräftiger seine Beinbewegung, desto besser bewegte sich das ganze Fruchtwasser um seinen Körper und Kopf und erzeugte eine angenehme, streichelnde Empfindung.
Indem er darauf beharrte, dass Mädel auch versuchen sollte, diese Freude zu erleben, gelang es ihm manchmal, Mädel dazu zu bringen mitzumachen, aber immer mit ein bisschen Furcht und Scheu. Sie fand, dass ein leichter Tritt genug angenehmes Fruchtwasserstreicheln erzeuge, aber härtere oder häufigere Tritte würden das bereits erlebte Vergnügen nicht steigern, und andererseits könnten sie Mutter stören.
Bub amüsierte sich sehr über die Naivität seiner Schwester.
Eine lange Zeit war vergangen, als Bub eines Tages auf eine andere, neue und beunruhigende Entschuldigung stieß.
"Ich fühle mich nicht gut, ich fühle mich ganz seltsam...", sagte Mädel.
Bub wurde hellhörig; was könnte ihr fehlen? Er hatte sie noch nie so unruhig erlebt; es konnte nicht eine neue Veränderung in ihrem Organismus sein, denn sie war immer überglücklich, wenn sie mit ihm über irgendeine von ihnen kommunizierte.
"Was ist los? Was fühlst du?"
"Ich fühle mich, als ob ich falle, mein ganzes Dasein versinkt".
Mädel ruderte ein wenig mit ihren Händen, aber wurde sofort müde.
"Keine Panik, das wird bald wieder verschwinden," tröstete Bub sie, ohne selbst sehr überzeugt davon zu sein.
Er versuchte zu erraten, was da wohl gerade mit seiner Schwester passierte.
"Bub!" rief sie ängstlich, "ich spüre, dass ich geboren werde!"
"Bleib ruhig!" flehte Bub unter Tränen. "Denk nicht an so etwas, es wird bald wieder weggehen, und dann leben wir unser normales Leben weiter."
Bub war wirklich besorgt; so hatte er seine Schwester noch nie erlebt; wenn sie wirklich geboren werden würde, was sollte er ihr sagen? Wie konnte er sie ermutigen, gerade er, der so oft darauf beharrt hatte, dass die Geburt das Ende von allem war?
Mädel wurde immer ängstlicher, rief flehentlich um Hilfe, die Bub ihr nicht geben konnte, und er fühlte sich machtlos, ihre Verzweiflung zu lindern.
"Bub, bitte, das ist schrecklich; ich hab das Gefühl, als ob mein ganzes Wesen in Stücke reißt: meine Außenhaut ist gerissen, mein Fruchtwasser ist weg, es beschützt mich nicht mehr, und es ist unangenehm, mich an dem Boden unter meinem Kopf aufzuschrammen."
Mädel hörte jetzt auf, mit ihrem Bruder zu kommunizieren; das Erlebnis der Geburt wurde zu übermächtig, zu dramatisch.
"Liebe Mutter, hilf mir! Hilf mir, gut geboren zu werden!"
Dies war ihr letzter Gedanke. Der Boden schien sich unter ihrem Kopf zu öffnen, wie eine Art Vakuum oder Schwindel. Sie spürte, dass sie durch einen engen, zusammendrückenden Tunnel ging. Ihr ganzer Organismus war angespannt, ihre Augen öffneten sich schreckerfüllt. Plötzlich brach ein riesiges Licht aus dem Ende des Tunnels; die Helligkeit nahm weiter zu, eine mächtige Kraft hielt ihren Kopf und zog daran, als ob sie ihn abreißen wollte.
Das brachte sie endgültig aus dem Tunnel, und sie merkte, wie ein unvorstellbare Licht sie umgab. Ihre Augen schlossen sich, von solcher Brillanz getroffen, aber mit der Zeit nahmen sie die Umrisse einiger riesiger Wesen wahr.
Sie fror und fühlte einen schweren Druck in ihrer Brust. Ein paar Schläge auf ihren Körper entlocken ihrer Kehle einen ersten Schrei in ihrem neuen Leben, und ihre Lungen nahmen ihre Funktion auf.
Wie sonderbar sie sich fühlte! Ein Teil ihres Wesens: die Plazenta, das Fruchtwasser, ihre Nabelschnur etc., waren für immer gestorben.
Etwas Weiches hüllte sie ein und brachte angenehme Wärme.
Ein großes Wesen nahm sie sanft und sehr liebevoll in seine Arme. Dort, ganz nahe bei Mutter und erschöpft, schlief Mädel friedlich und zutiefst glücklich ein. Ihr ganzes früheres Leben war vergessen, weder dachte sie an ihren Bruder noch fragte sie sich, wie es ihm inzwischen ergangen war.
Besorgt über das Schweigen seiner Schwester, erkannte er, dass er sie für immer verloren hatte. Ihre Zeit geboren zu werden war gekommen, und das war unumkehrbar, niemand kehrt nach der Geburt zurück.
Wenige Sekunden später strenge er sich an, seine Traurigkeit zu überwinden und mit seinem Alltag fortzufahren: seine Übungen, seine Essens- und Ruheperioden. Er würde Mädel vergessen müssen, aber es würde sehr schwierig werden, sie nicht zu vermissen. Es tat ihm leid, dass er bei manchen Gelegenheiten so sarkastisch zu ihr gewesen war, als er ihre Überzeugungen widerlegt hatte. Jetzt bedauerte er, dass er ihre Gesellschaft nicht mehr genossen hatte, statt ständig mit ihr zu diskutieren und zu wetteifern.
Zögernd begann er zu trainieren, aber er konnte nicht weiter machen, da er seltsame Symptome zu bemerken begann, die er schnell wiedererkannte als dieselben, die Mädel im Moment ihrer Geburt beschrieben hatte.
Seine Stunde war ebenfalls gekommen! Es ist das Schicksal eines Jeden, und es gibt keine Lösung. Dies war der Anfang vom Ende; daher beschloss er traurig und erschüttert, diesen Gedanken zu akzeptieren.
Sein Organismus begann zu zerreißen, seine Plazenta löste sich. Bub versuchte ruhig zu bleiben, aber er wurde von einer enormen Verzweiflung überwältigt.
Sein Entsetzen vor der Geburt, seine Angst, für immer zu verschwinden, schwoll zu einer solchen Bedrängnis an, dass er begann, sich pausenlos zu bewegen.
Sein Körper sank auf die eine Seite. Die Nabelschnur, die ihn am Leben erhalten und ernährt hatte, fiel über seinen Kopf.
Der Boden öffnete sich vor ihm. Bub ruderte wild, unkontrolliert, und konnte nicht vermeiden, die Schnur mit seinem Arm mitzuziehen, und sie legte sich fatalerweise um seine Kehle.
Bub hatte recht gehabt. Es gab kein anderes Leben nach der Geburt.