Kapitel 12: Ausblick

Auf Gottes festehendes Versprechen bauen, statt auf Menschen zu vertrauen!

Das Leben des Einzelnen mag unbedeutend erscheinen, für Gott aber zählt jeder Gerechte tausendfach (Ps 91:7; Jes 66:22)

iconiconicon

"Darum verliere ich nicht den Mut. Die Lebenskräfte, die ich von Natur aus habe, werden aufgerieben; aber das Leben, das Gott mir schenkt, erneuert sich jeden Tag. Die Leiden, die ich jetzt ertragen muss, wiegen nicht schwer und gehen vorüber. Sie werden mir eine Herrlichkeit bringen, die alle Vorstellungen übersteigt und kein Ende hat. Ich baue nicht auf das, was man sieht, sondern auf das, was jetzt noch keiner sehen kann. Denn was wir jetzt sehen, besteht nur eine gewisse Zeit. Das Unsichtbare aber besteht ewig." (2. Korinther 4:16-18, Die Bibel in heutigem Deutsch)

Das also war mein Bericht. Ich habe dargelegt, welche Grundsatzfragen den Gewissenskonflikt in mir hervorriefen, und zu welchen Gefühlen, Reaktionen und Schlussfolgerungen das bei mir geführt hat. Jeder muss selbst abschätzen, was das für ihn bedeutet und zu welchen Entscheidungen ihn sein eigenes Gewissen geführt hätte.

Angesichts der mehr als fünf Milliarden Menschen auf der Erde und der endlosen Zahl vergangener Generationen erscheint das Leben des einzelnen höchst unbedeutend. Wir sind verschwindend kleine Tröpfchen in einem gewaltigen Strom. Und doch zeigt uns die christliche Lehre, dass jeder von uns, so klein und unbedeutend wir sein mögen, anderen in einem Maße Gutes tun kann, das unsere Kleinheit weit übersteigt. [1] Möglich wird das durch den Glauben und, wie der Apostel Paulus sagt, "die Liebe, die der Christus hat, drängt uns". [2]

Brauchen wir, um gottgefällig zu leben und Christ zu sein, eine Organisation, eine Religion?

Wir brauchen dafür keine imposante Organisation, die uns dabei hilft, auch nicht ihre Leitung und Kontrolle, ihr Antreiben und ihren Druck. Die tiefe Wertschätzung für die unverdiente Güte Gottes, dass uns das Leben als "freie Gabe" geschenkt wird, ohne dass dafür Werke nötig sind, sondern nur der Glaube, diese Wertschätzung genügt voll und ganz, um uns zu beflügeln. „Wenn Gott uns so sehr geliebt hat, dann müssen auch wir einander lieben.“ [3] Wenn wir unsere Freiheit als Christen achten und lieben, werden wir auf andere Formen des Drängens gar nicht mehr ansprechen. Wir werden [316] uns auch keinem anderen Joch unterwerfen als dem, das uns in folgenden Worten angeboten wird:

iconiconicon

"Kommt zu mir alle, die ihr euch abmüht und die ihr beladen seid, und ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin mild gesinnt und von Herzen demütig, und ihr werdet Erquickung finden für eure Seele. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.“ [4]

Wenn man am Ende seines Lebens Rückschau hält, dann wird man Befriedigung nur darin finden, dass man sein Leben zum Wohlergehen anderer eingesetzt hat, vor allem auf geistigem Gebiet, aber auch im seelischen, körperlichen und materiellen Bereich.

Ich kann nicht glauben, dass es besser ist, lieber nicht so genau Bescheid zu wissen, oder dass man anderen einen Gefallen tut, wenn man ihnen ihre Illusionen lässt. Früher oder später müssen die Illusionen sich der Wirklichkeit stellen. Je länger das hinausgezögert wird, desto größer kann der Schmerz sein, der mit der Ernüchterung einhergeht. Ich bin froh, dass es bei mir nicht noch länger gedauert hat.

Deswegen habe ich mich entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Ich habe mich aufrichtig bemüht, in allem genau zu sein. In Anbetracht dessen, was sich bereits abgespielt hat und was zu diesem Thema veröffentlicht und in Form von Gerüchten und übler Nachrede verbreitet worden ist, gehe ich davon aus, dass man versuchen wird, mich zu verunglimpfen und die Bedeutung des hier Gesagten herabzusetzen. Sobald man irgend etwas entdeckt, das als Fehler bezeichnet werden könnte, und sei es auch nur die Abweichung um einen einzigen Tag bei einem Datum, eine Differenz um eins bei einer Zahl, ein falsches Komma in einem Zitat, ein falsch geschriebener Name oder etwas ähnliches, so wird man mit Sicherheit darauf deuten und sagen: "Das Buch steckt voller Fehler!" Doch ganz gleich, was man sagen wird, ich stehe zu dem, was ich geschrieben habe. Sollten Irrtümer enthalten sein, so wäre ich jedem dankbar, der mich darauf hinweist, und ich will alles in meiner Kraft stehende tun, um sie zu berichtigen.

Nur wenige Zeugen Jehovas kennen die Praxis des Herrschaftsapparates

Was wird die Zukunft den Zeugen Jehovas, ihrer Organisation und ihrer leitenden Körperschaft bringen? Diese Frage wird mir oft gestellt, doch eine Antwort darauf kann ich nicht geben. Man muss die Entwicklung abwarten. Nur bei einigen wenigen Dingen bin ich mir ziemlich sicher. So glaube ich nicht, dass die Menschen scharenweise die Organisation verlassen werden. In einer ganzen Anzahl Ländern gibt es derzeit einen deutlichen Zuwachs.

Die meisten Zeugen Jehovas wissen einfach nicht, wie die Praxis des Herrschaftsapparats aussieht. Nach meinen Erfahrungen mit ihnen während vieler Jahre und in vielen Ländern weiß ich, dass die Organisation für einen hohen Prozentsatz unter ihnen mit einer gewissen Aura umgeben ist, einem strahlenden Schein, der deren Verlautbarungen mehr Bedeutung verleiht, als man den Worten unvollkommener Menschen üblicherweise zubilligt. Die Lehren bekommen etwas Esoterisches, wobei mit esoterisch [317] etwas gemeint ist, das "nur Eingeweihten einsichtig und geistig zugänglich ist", meistens einer kleinen, exklusiven Schar. Die meisten Zeugen denken, die Sitzungen der leitenden Körperschaft finden auf einer anderen Ebene statt und dort offenbare sich mehr als das normale Maß an Bibelverständnis und Weisheit. Schließlich hat man ihnen ja auch eingeimpft:

"Nachdem wir Nahrung empfingen, bis wir die gegenwärtige geistige Kraft und Reife hatten, werden wir da plötzlich gescheiter als unsere früheren Fürsorger und verlassen das Licht und die Leitung der Organisation, die uns bemutterte?" [5]

Es gibt ständig Ermahnungen zur Demut, was heißen soll, dass man alles anzunehmen hat, was die Organisation einem sagt, so als stamme es von einer Quelle höherer Weisheit. Dass der Durchschnittszeuge nur eine sehr schwammige Vorstellung davon hat, wie die Leitung zu ihren Beschlüssen kommt, verstärkt die Aura esoterischer Weisheit nur. Man sagt ihm, er sei "mit der einzigen Organisation auf der Erde verbunden, ... die die, tiefen Dinge Gottes' versteht". [6]

Freundschaftsbande innerhalb der Organisation als Hemmschuh, um dem Gewissen Vorrang zu geben!

Nur wenige haben bisher vor den Problemen gestanden, die in diesem Buch behandelt werden, und damit auch vor dem Gewissenskonflikt. Ich vermute, viele würden sich dem lieber nicht aussetzen. Manche sagten mir, sie hätten so viele freundschaftliche Beziehungen innerhalb der Organisation und diese wollten sie nicht aufs Spiel setzen. Auch ich hatte viele gute Freunde und wollte sie nicht verlieren. Noch heute fühle ich mich den Menschen nahe, mit denen ich den größten Teil meines Lebens verbracht habe. Doch für mich gab es grundsätzliche Fragen, die wichtiger waren als diese Freundschaften, Fragen zu Wahrheit und Ehrlichkeit, Anständigkeit und Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit.

Damit will ich nicht sagen, man solle auf Konfrontationskurs gehen und die Auseinandersetzung bewusst herbeiführen, wo es nicht nötig ist. Ich habe volles Verständnis für alle, deren Verwandtschaft praktisch nur aus Zeugen Jehovas besteht und die ganz genau wissen, wie verheerend es sich auf die Beziehungen in der Familie auswirken könnte, wenn Sohn oder Tochter, Bruder oder Schwester, Vater oder Mutter jetzt als "abtrünnig" behandelt werden müsste, als jemand, der von Gott verworfen wurde und geistig unrein ist. Noch nie habe ich empfohlen, eine solche Situation mutwillig herbeizuführen; auch in meinem eigenen Fall habe ich das zu vermeiden gesucht.

Bleibt die derzeitige Atmosphäre in der Organisation aber bestehen, so wird es zunehmend schwerer werden, sich dem Konflikt zu entziehen, wenn man keine Kompromisse mit seinem Gewissen eingehen und anderen etwas vormachen will. Sonst muss man vielleicht so tun, als glaube man etwas, an das man gar nicht glauben kann, weil man es in Wahrheit für eine Verdrehung des Wortes Gottes hält, die unchristliche Frucht hervorbringt, indem sie Menschen schädigt. [318]

Untergetauchte werden verfolgt, um von ihnen zu hören, wie sie zur Organisation stehen: Keine Frage nach ihrem Verhältnis zu Jesus und mit Gott!

Ich kenne eine Reihe von Zeugen, die versucht haben, sich still zurückzuziehen, und einige, die "untergetaucht" sind, indem sie in eine andere Gegend umzogen und niemand aus der Organisation etwas von ihrer neuen Anschrift sagten, in der Meinung, dadurch den Nachstellungen zu entgehen. Ich könnte viele Fälle nennen, in denen alle diese Bemühungen nichts gefruchtet haben, da die Ältesten die Zeugen unerbittlich aufgespürt haben, einzig um von ihnen zu hören, wie sie zur "Organisation" standen (nicht etwa zu Gott, Christus und der Bibel).

Wer diesen Loyalitätstest, der in Form einer ultimativen Frage vorgelegt wird, nicht besteht, wird so gut wie immer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und damit von seiner Familie und seinen Freunden, soweit sie der Organisation angehören, abgeschnitten. Charakteristisch dafür ist die Erfahrung einer jungen Frau aus dem Süden Michigans, die verheiratet ist und Kinder hat. Sie war von den Ältesten verhört worden, weil sie an einigen Lehren Zweifel hatte. Das hat sie so mitgenommen, dass sie keine Zusammenkünfte mehr besuchte. Monate später riefen die Ältesten an und forderten sie auf, noch einmal zu einer Sitzung zu kommen. Sie sagte, sie wolle das nicht noch einmal durchmachen. Man drängte sie, doch zu kommen; es solle ihr wegen ihrer Zweifel beigestanden werden und das sei auch das letzte Mal. Ihr Ehemann, der kein Zeuge Jehovas war, riet ihr, zu gehen und es hinter sich zu bringen. So ging sie hin.

Sie berichtet: "Schon nach kaum zehn Minuten war mir klar, welches Ziel sie verfolgten." Eine halbe Stunde nach Eröffnung der Verhandlung war sie bereits ausgeschlossen. Allein schon die Schnelligkeit hat sie total verblüfft. „Ich konnte gar nicht fassen, was sie da taten. Ich saß die ganze Zeit heulend da und innerhalb einer halben Stunde hatten sie mich aus dem Königreich rausgeschmissen. Ich hätte erwartet, dass sie mit Tränen in den Augen mir zu Füßen fallen und mich stundenlang anflehen würden, damit das vermieden werden könnte." Einer der fünf Ältesten, der während der Verhandlung eingenickt war, sagte nachher: "Die hat vielleicht Nerven! Zu sagen, sie wüsste nicht, ob das nun die Organisation Gottes sei oder nicht!"

Große Schuld lastet auf denen, die durch falsche Führung Familien und Einzelpersonen zerstören

Beim Ausschluss aus Gewissensgründen sind Zerrüttung der Familie und Seelenschmerzen allein der Organisation zuzuschreiben!

Kann man der Konfrontation nicht mehr ausweichen, so hilft es, sich zu vergegenwärtigen, dass die Zerrüttung der Familie und die seelischen Schmerzen allein der anderen Seite zuzuschreiben sind. Das geht einzig und allein auf das Konto einer Organisationspolitik, die jedem mit dem Hinauswurf droht, der sich ihr nicht fügt und Ausgeschlossene und solche, die die Gemeinschaft verlassen haben, nicht so behandelt, als habe Gott sie verstoßen, wobei es egal zu sein hat, ob man sie sonst als aufrecht und gottergeben kannte.

Die religiöse Intoleranz, die die Spaltung hervorruft und enge Familienbande zerreißt, geht nur von einer Seite aus. Sie hat wie in den Tagen Jesu ihren Ursprung nur dort, wo man das Abweichen aus Gewissensgründen mit Untreue gleichsetzt. [7] Dort auch hat man letztlich die eigentliche Verantwortung für den Kummer und das Leid zu tragen. [319]

Wachstum und Prosperität der Organisation nicht mit Segen Gottes verwechseln!

Viele Zeugen sind zwar sehr besorgt über das, was vorgeht, können sich aber nicht vorstellen, Gott ohne die Organisation zu dienen; sie brauchen das Gefühl der Geborgenheit und Stärke, das durch die große Zahl der Mitglieder entsteht. Im Vergleich zu anderen religiösen Organisationen mögen Jehovas Zeugen nicht sehr zahlreich sein, dafür sind sie aber weit verbreitet. Ihre Gebäude sind nicht so eindrucksvoll wie die des Vatikan oder anderer großer Religionen; doch die sich ausdehnende Weltzentrale, der mittlerweile ein ziemliches Stück Brooklyn gehört, die vielen Zweigbüros, denen vielfach große Druckereien angeschlossen sind, die alle für Millionen Dollar gekauft oder gebaut wurden und in denen Hunderte von Mitarbeitern tätig sind (in Brooklyn sind es etwa 2000), die großen Kongresssäle und die vielen tausend Königreichssäle, von denen nicht wenige einen Wert von einer viertel Million Dollar haben, genügen, um einen Normalbürger zu beeindrucken.

Jeder neue Ankauf und jede Erweiterung der Anlagen wird als Zeichen des Segens Gottes und als Beweis des geistigen Wohlergehens und des Erfolgs der Organisation gepriesen. Was allen aber das Gefühl der Zusammengehörigkeit in besonderem Maße gibt, das ist die Lehre, Gott handle mit ihnen als einzigem Volk auf Erden, und die Leitung, die sie durch die leitende Körperschaft erfahren, sei die eines göttlichen "Kanals". Verstärkt wird das Gefühl der engen Gemeinschaft noch dadurch, dass man alle Außenstehenden als "Weltmenschen" ansieht.

In jeder Nation ist Gott der Mensch annehmbar, der ihn fürchtet! Dazu braucht es keine Organisation!

Darum ist es meines Erachtens für den normalen Zeugen Jehovas genauso schwer, sich vorzustellen, er könne Gott ohne all das dienen, wie es das für den Juden des 1. Jahrhunderts war, der an seine damaligen Einrichtungen gewöhnt war. Die eindrucksvollen Gebäude des Tempels und seine Vorhöfe in Jerusalem, die Gott hingegebenen Leviten und Priester, die dort zu Hunderten und Tausenden Dienst taten, ihr Anspruch, das allein auserwählte Volk Gottes zu sein, wogegen alle anderen als unrein angesehen wurden, all das stand in krassem Gegensatz zu den Christen jener Tage, die keine großen Gebäude kannten, sich in einfachen Häusern trafen, keine abgesonderte Klasse von Priestern und Leviten hatten, und die demütig anerkannten, dass "in jeder Nation der Mensch, der (Gott) fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, (ihm) annehmbar ist". [8]

Recht häufig hört man – insbesondere aus den Reihen der Ältesten der Zeugen Jehovas – die Hoffnung, es werde irgendeine Art von Reform geben, durch die alle Missstände in Lehre und Praxis beseitigt werden. Manche vertreten die Ansicht, dazu werde es nach einem Wechsel in der Führungsspitze kommen. Ein Angehöriger des Zweigkomitees eines großen Landes, der bereits vor Antritt meines Erholungsurlaubs im Frühjahr 1980 erkannt hatte, wie sehr ich unter der vorherrschenden Einstellung und der gesamten Situation in der Weltzentrale litt, sagte zu mir: "Gib nicht auf, Ray! Das sind alte Männer, die werden nicht ewig leben."

Das war keineswegs hart und gefühllos oder zynisch gemeint, denn der, der das sagte, war ein sehr [320] warmherziger Mensch. Solche Äußerungen entspringen dem Glauben, dass irgendein Wechsel einfach kommen muss und dass auf einen Trend zu einer immer härteren Linie und einer immer dogmatischeren Haltung zwangsläufig ein christlicheres Vorgehen und eine bescheidenere Präsentation der Glaubensinhalte folgen muss.

Wer auf Veränderungen hofft und darum ausharrt,
baut weiterhin auf Sand!

Ich glaube nicht, dass grundlegende Änderungen einfach deswegen kommen werden, weil die Männer an der Spitze der Organisation sterben. Dabei spreche ich von grundlegenden Änderungen, denn kleinere und größere Änderungen hat es gegeben, solange die Bewegung existiert, zum Teil als Folge des Todes Russells beziehungsweise Rutherfords. Der Grundrahmen blieb dabei aber unangetastet.

Die Veränderungen in der Machtstruktur von 1975-76 stellen die größte Korrektur dar, die die Organisation in ihrer gesamten Geschichte erlebt hat. Die Macht wurde nun auf ein ganzes Kollegium verteilt. Viele neue Gesichter tauchten in der obersten Führung auf. Aber die traditionellen Glaubenssätze und die bisher geübten Praktiken haben sich noch stets als mächtig genug erwiesen, jeden Ansatz zu ersticken, der weggeführt hätte von spekulativer Bibelauslegung, Dogmatismus, talmudischer Gesetzlichkeit, Herrschaft durch eine Elite und Repressalien, hin zu einer schlichten Bruderschaft, die sich in den wesentlichen Dingen einig ist, im Nebensächlichen sich aber tolerant und nachgiebig verhält, und das sowohl im Glauben wie in der Lebenspraxis.

Fred Franz, der gegenwärtige Präsident, ist wie auch die früheren Präsidenten eine Führerpersönlichkeit, und sein persönlicher Einfluss ist sehr groß, auch wenn das Präsidentenamt durch die Dezentralisierung der Macht in den Jahren 1975-76 buchstäblich aller seiner Befugnisse beraubt wurde. Mittlerweile ist er weit über neunzig. Mit seinem Hinscheiden würde sich das Gesamtbild sicher verändern, denn keiner in der leitenden Körperschaft hat eine ähnlich charismatische Persönlichkeit wie er (oder wie Russell, Rutherford und Knorr, seine Vorgänger]. Das gesamte Lehrgebäude, das nach dem Tode Richter Rutherfords im Jahre 1942 aufgebaut wurde, ist praktisch sein Werk; auch die grundsätzliche Haltung in der Frage des Gemeinschaftsentzugs zählt dazu; das erhöht natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass es Änderungen geben wird, wenn er nicht mehr da ist.

Ich neige aber zu der Auffassung, dass es sich höchstens um geringfügige Änderungen handeln kann und nicht um einen grundlegenden Wandel in den Lehren und Einstellungen der Organisation. Keines der dann verbleibenden Mitglieder der leitenden Körperschaft könnte neue Bibelauslegungen so markant in Worte fassen und durch verzwickte Argumentationsketten untermauern, wie Fred Franz es getan hat.

Die meisten schreiben selbst sehr wenig, manche gar nichts. Einzig Lloyd Barry hat Bücher verfasst, und diese sind lediglich Wiederholungen von bereits Gesagtem, ohne dass Neues hinzugefügt würde. [9] Die anderen Autoren gehören nicht der leitenden [321] Körperschaft an und zählen sich auch nicht zu den "Gesalbten". Vergleicht man die Umstrukturierung von 1975-76 mit dem Versetzen von Zwischenwänden in einem Haus, dann könnte man zukünftige personelle Veränderungen höchstens mit dem Verrücken von Möbeln oder der Anschaffung einiger neuer Gegenstände vergleichen; das Haus bleibt in beiden Fällen dasselbe.

Von den 14 Mitgliedern des Führungsgremiums haben Milton Henschel, Ted Jaracz und Lloyd Barry neben dem Präsidenten den größten Einfluß. [10] Sind sie sich in einer Sache einig, dann schließen sich ihnen Carey Barber, Martin Pötzinger, Jack Barr und George Gangas fast immer an, ohne nachzudenken. Albert Schroeder und Karl Klein zeigen zwar etwas mehr persönliches Profil als diese vier, würden aber wohl meistens konform gehen. Die Stimmen der bisher Genannten ergeben bereits die nötige Mehrheit.

Keinerlei Anzeichen irgend einer grundlegenden Reform während Jahrzehnten: Dieselben Irrtümer und Lügen werden immer erneut in leicht verändertem Gewand aufgetischt!

Geht man danach, wie die tonangebenden Mitglieder in der Vergangenheit gehandelt haben, so ist zu erwarten, dass sie einen konservativen Kurs steuern und allem widerstehen werden, das die gegenwärtig geltenden traditionellen Lehren, Methoden und Grundsätze nicht weiterführt und bestärkt. Die Veröffentlichungen der letzten Jahre lassen keinerlei Anzeichen für irgendeine Reform erkennen, auf die manche so sehr setzen. Zwar sind viele Mitglieder der leitenden Körperschaft älter als 70 oder 80 Jahre, doch jede neue Berufung muss von den restlichen Mitgliedern gebilligt werden, besonders von den dominierenden unter ihnen.

Es ist auch keine Frage, dass es immer schwieriger werden wird, geeigneten Ersatz zu finden, da die Anzahl der "gesalbten" Männer zusehends schwindet. Möglicherweise muss die leitende Körperschaft eines Tages ihr Prinzip aufgeben, nach dem nur Angehörige dieser Gruppe aufgenommen werden können. Das ließe sich aber mit der Lehre von der Sonderstellung des "treuen und verständigen Sklaven" nur schwer vereinbaren, und darum wird man es so lange wie möglich hinausschieben. Vielleicht kommt ihnen dabei zustatten, dass sich ab und zu Jüngere in der Organisation zu den "Gesalbten" zählen und dadurch mögliche Nachfolgekandidaten für das Führungsgremium werden.

Wer hofft, dass sich aus personellen Veränderungen Reformen ergeben werden, begeht meines Erachtens den Fehler zu meinen, der Istzustand sei das Werk der gegenwärtigen Führungsmannschaft. Die Personen sind nur von untergeordneter Bedeutung. Das Entscheidende ist die Grundannahme und das Leitbild, auf dem die ganze Bewegung ruht.

Im Supermarkt der Religionen finden wir stets jenes Weißwaschmittel, das uns befriedigt!

Was ist das Haupt-Unterscheidungsmerkmal der Zeugen Jehovas gegenüber anderen Religionen? Die Behauptung, dass Gottes Königreich 1914 auf der Erde aufgerichtet wurde!

Was die Glaubenslehren der Zeugen Jehovas von denen anderer Religionen vor allem unterscheidet, ist nicht ihre Ablehnung der Höllenqualen, der Unsterblichkeit der Seele oder der Dreieinigkeit; es ist auch nicht der [322] Gebrauch des Namens Jehova oder der Glaube an ein Paradies auf Erden. Das alles findet sich auch in anderen Religionsgemeinschaften. [11]

Das besondere Unterscheidungsmerkmal ist der Schlüssel-Lehrsatz über 1914 als das Jahr, in dem Christus seine aktive Herrschaft aufnahm, sein Gericht begann und – was das Wichtigste ist – die Watch Tower Society als offiziellen Mitteilungskanal erwählte, seine irdischen Interessen vollständig einem "treuen und verständigen Sklaven" unterstlilte und damit dessen Vorstand praktisch absolute Macht verlieh.

Jedes Abgehen von dieser grundlegenden Lehre hätte Auswirkungen auf das gesamte Lehrgebäude zur Folge und ist deshalb äußerst unwahrscheinlich, da schwer begründbar. In den letzten Jahren ist genau das Gegenteil der Fall gewesen. Mit aller Macht hat man versucht, alle Lehren, die mit dem Jahr 1914 zusammenhängen oder sich von ihm ableiten, durch Artikel im Wachtturm und anderen Veröffentlichungen zu stützen, um den Glauben an alles zu erhalten, das sich davon herleitet. Das betrifft vor allem die Ansprüche der Organisation auf ihre Führungsrolle. Gerade in jüngster Vergangenheit wurden größte Anstrengungen unternommen, die Machtstruktur zu festigen und die Loyalität ihr gegenüber zu vertiefen.

Das Jahr 2014 nähert sich bedenklich: Hundertjahrfeier für eine der verheerendsten Lüge zu erwarten! Der Kurs, alles zu zentralisieren, steuert auf den Höhepunkt zu.

Freilich wird es mit jedem Jahr, das verstreicht, schwieriger, diese Lehre und alle damit zusammenhängenden Ansprüche aufrechtzuerhalten. Im Jahr 1984 waren 70 Jahre seit 1914 vergangen. Irgendwann einmal wird man die Lehre von der "Generation" von 1914 nicht mehr aufrechterhalten können, ohne sich völlig unglaubwürdig zu machen. Man könnte aber verschiedene Korrekturen oder "Verbesserungen" vornehmen, wie sie zum Teil in Kapitel 9 besprochen wurden, so dass sich die Behauptungen in etwas veränderter Form beibehalten ließen.

Die Organisation steuert inzwischen wieder einen Kurs in Richtung auf eine Stärkung der Zentralgewalt (wieder ein Beispiel für "Kreuzen"). Durch das Organisationshandbuch vom Frühjahr 1983 wurde der vorsitzführende Aufseher praktisch wieder dauerhaft in seine Position innerhalb der Ältestenschaft eingesetzt; dazu kamen weitere organisatorische Veränderungen, die der verstärkten Überwachung von oben her dienten.

Abzuwarten bleibt, ob auch innerhalb der leitenden Körperschaft die Leitungsbefugnisse wieder stärker in einer Hand vereint werden, beispielsweise bei einem ständigen Vorsitzenden oder einer Art Gesamt-Koordinator. Den derzeitigen Präsidenten allerdings wird man kaum in eine solche Stellung wählen, da er an reiner Verwaltungstätigkeit nicht sonderlich interessiert ist. Als Kandidat für die Nachfolge bietet sich vor allem Milton Henschel an, und es scheint entschieden wahrscheinlicher, dass es eine Umstrukturierung des Gremiums geben wird, bei der er diese neue Stellung übernimmt. [323]

Ganz gleich, wie die Änderung aussehen wird, sie wird mit Sicherheit als Ergebnis göttlicher Führung verkündet werden. Und die alten Lehren und Vorkehrungen, die man verworfen hat, werden als "der Wille Gottes für jene Zeit" hingestellt werden, vielleicht auch als eine Art Manöver des himmlischen Kapitäns, Jesu Christi, der damit letztlich für alle das Beste wollte.

Dass man den wirklichen Grund für die Änderungen eingesteht, dass nämlich die Lehren und Verfahrensweisen unbiblisch waren und man unter dem Druck der Umstände gezwungen war, absehbare kritische Situationen abzuwenden, weil eine Position unhaltbar geworden war – dieses Eingeständnis braucht man genau wie in den vergangenen 100 Jahren der Geschichte dieser Organisation nicht zu erwarten. So handeln bestimmt keine Menschen, die die Schrift erforschen und aufgrund ihres besseren Verständnisses freimütig zugeben, sich geirrt zu haben und ihre Fehler berichtigen zu wollen.

Der Fehlschluss, dass Gott durch eine menschliche Organisation handeln müsse, lässt den Blick auf die Aufgabe des „Sprosses“ verblassen!

Dabei wird endlos derselbe grundlegende Lehrsatz wiederholt werden, der als Leitbild alles Denken, Schreiben und Handeln durchzieht: Gott müsse mit den Menschen durch eine Organisation handeln und sein König Jesus Christus habe hierfür die Watch-Tower-Organisation auserkoren. Genau diese Grundannahme versperrt vielen klar denkenden Menschen den Blick auf das eigentliche Problem. Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Sie erkennen wohl, wie inkonsequent und ungerecht vieles gehandhabt wird, wie verkehrt zahlreiche Lehren und wie abwegig viele Argumente sind, welch unchristliche Grundhaltung die Herangehensweise so oft prägt. Doch die Summe von dem allen sehen sie nicht. Sie sehen den Teil, nicht das Ganze.

Es sind Menschen in verantwortlicher Stellung darunter, denen es so geht. Wie an einen Strohhalm klammern sie sich an die Hoffnung – und bei mir war das nicht anders gewesen –, in der Zukunft werde es großartige Neuerungen geben, weil ihr ganzes Denken von diesem Leitbild über die Organisation geprägt ist. Sie meinen, Gott müsse einfach etwas tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen, da dieses Leitbild als richtig bewiesen werden müsse; Gott müsse doch zeigen, dass er dahintersteht.

Dabei ist das Leitbild selbst die Wurzel all des Unrechts, das sie so beklagen. Das ganze Konzept stammt nicht von Gott. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass er meinen wird, es unterstützen zu müssen.

Hier fällt mir ein Ausspruch ein, den ein Freund gefunden hat:

"Gibt man eine unerfüllbare Hoffnung ein für allemal auf, so wird man dadurch entschädigt, dass man immer mehr Ruhe findet."

Das hat sich bei mir bewahrheitet, und ich weiß, dass es bei vielen anderen genauso war. Anfangs mag der Schmerz sehr groß sein. Manchmal ist die Behandlung durch die Ältesten erniedrigend, wenn sie die Verhöre führen und einem die menschliche Würde nehmen, wenn sie sich groß aufspielen und sich anmaßen zu behaupten, man sei von Gott verworfen. Doch nach aller inneren Zerrissenheit kommt dann deutlich ein Augenblick der Erleichterung und des inneren Friedens.

Das kommt zum einen von der [324] Gewissheit, nicht länger von diesen Menschen belästigt werden zu können, ihren Ausforschungen und dem Druck ihrer kirchlichen Rechtsverfahren entronnen zu sein. Mehr noch aber ist es die Wahrheit und das kompromisslose Festhalten an ihr, das einen auf neue und wunderbare Weise frei macht. Je verantwortungsbewusster man mit dieser Freiheit umgeht, desto besser wirkt sie sich auf einen aus.

Der Übergang aus der Sklaverei der Abhängigkeit hin zur christlichen Freiheit mag traumatisch sein: Es ist der einzig gangbare Weg, um mit Jesus erneut verbunden zu sein! (Off 18:4)

Die größte Freiheit besteht darin, Gott und seinem Sohn zu dienen und zum Wohl aller Menschen tätig zu sein, ohne an die Weisungen unvollkommener Menschen gebunden zu sein, sondern dabei allein dem Diktat des eigenen Gewissens zu folgen. Diese Freiheit bringt ein Gefühl mit sich, wie wenn man von einer schweren Last befreit wurde. Wer das deutlich spürt, der hat das Bedürfnis, denen, die ihm diese Freiheit gaben, nicht weniger, sondern noch mehr zu dienen. [12]

Sei der Übergang auch noch so traumatisch, er kann dazu führen, dass sich ein wirklich persönliches Verhältnis zu den beiden größten aller Freunde entwickelt. Beharrlich hat die Organisation sich selbst so sehr in den Vordergrund geschoben, so viel geistigen Raum eingenommen und so viel Aufmerksamkeit auf ihre eigene Bedeutung gelenkt, dass viele nie die Nähe zum himmlischen Vater erlangt haben, die sie eigentlich hätten haben sollen.

Man hat die Organisation so sehr auf ein Podest gestellt, dass sie Gottes eigenen Sohn an Bedeutung überschattete und viele davon abhielt, die enge Beziehung zu ihm aufzubauen, die er ihnen anbietet, und ihnen von seiner mitfühlenden Persönlichkeit nur ein verzerrtes Bild vermittelte. [13] So ist es kein Wunder, dass viele nach ihrem Ausschluss sich erst einmal verloren vorkommen und ohne Halt, weil sie keiner sichtbaren Macht mehr unterstehen und ihr Leben nicht mehr von deren starrer Routine verplanen lassen müssen, dem einengenden Druck ihrer Grundsätze und Anweisungen nicht mehr ausgesetzt sind.

In gewissem Maße scheinen solche schmerzhaften Anpassungsvorgänge sogar notwendig, damit man einen klaren Begriff davon erhält, was es bedeutet, sich völlig auf Gott und seinen Sohn zu verlassen. Mir ist keiner bekannt, der nicht sicher durch diese Klippen hindurchgesteuert und gestärkt daraus hervorgegangen wäre, nachdem er erkannt hat, wie wichtig es ist, Gott ganz nahe zu sein, das Bibellesen sehr ernst zu nehmen und anderen ermutigend zur Seite zu stehen; das hat die Verbindung mit der einzig stabilen Grundlage des Glaubens, mit der Gabe Gottes, seinem Sohn, sehr gefestigt. [14]

Besser als andere haben diese Menschen erkannt, welch inniges Verhältnis zu ihrem Herrn und Meister sie als seine Jünger haben, die er als seine engen Freunde ansieht, nicht als Schafe, die in Massentierhaltung in einer engen Umzäunung eingepfercht sind, sondern als Schafe, denen der Hirte sich einzeln zuwendet und individuelle Fürsorge angedeihen lässt.

Ganz gleich, wie alt sie sind und wie lange sie gebraucht haben, um [325] zu dieser Einsicht zu gelangen, diese Menschen fühlen sich wie neugeboren. Sie blicken glücklich und zuversichtlich in die Zukunft, denn ihre Hoffnungen und Ziele sind nicht mehr auf Menschen, sondern auf Gott gerichtet. Damit soll nicht gesagt sein, dass es keine Herde Gottes gäbe, keine Gemeinde mit Christus Jesus als ihrem Haupt. Der Sohn Gottes gab die Zusicherung, er werde wahre Nachfolger haben, und zwar nicht nur im 1. Jahrhundert oder in unserem 20. Jahrhundert, sondern auch in all den dazwischenliegenden Jahrhunderten, denn er sagte: "Ich bin bei euch alle Tage, bis diese Weltzeit sich vollendet.“[15]

Er würde seine wahren Jünger erkennen, auch wenn sie unter das "Unkraut", das kommen sollte, gemischt wären. Als Erkennungsmerkmal würde ihm dienen, was für Menschen sie sind, nicht ob sie irgendeiner Organisation angehören. Auch wenn man mit normalen menschlichen Mitteln nicht unterscheiden konnte, ob sie zu seiner Gemeinde zählten, so hat er sie doch all die Jahrhunderte hindurch gekannt und sie als ihr Haupt, ihr Herr und Meister, geleitet.

Einer seiner Apostel sagt: "Aber das feste Fundament, das Gott gelegt hat, kann nicht erschüttert werden. Es trägt als Siegel die Inschrift: „Der Herr kennt die Seinen."[16] Warum sollte das nicht auch heute noch so sein? Gottes Wort zeigt, dass es Menschen nicht zusteht – und ihnen auch gar nicht möglich wäre –, aus allen anderen Menschen die herauszusuchen, die den "Weizen" darstellen, und sie hübsch ordentlich in einer einzigen Herde zusammenzubringen.

Wer zu welcher Gruppe gehört, so zeigt die Bibel klar, wird sich erst beim Gericht des Sohnes Gottes erweisen. [17]

Gerechtigkeit gemäß Gottes Rechtsmaßstab im „Königreich des Sohnes der Liebe“ anzuwenden macht uns für Gott annehmbar!

Es ist so angenehm, jetzt frei zu sein und nicht bei jedem Menschen, den man trifft, erst nach einem „Etikett“ schauen zu müssen, um zu wissen, wie man mit ihm umzugehen hat. Man fühlt sich nicht mehr genötigt, ihn entweder als Glaubensbruder oder als "Weltmensch" einzusortieren, der entweder "in der Wahrheit" oder "ein Teil der Organisation des Teufels" ist, der wegen des Etiketts "Zeuge Jehovas" automatisch ein "Bruder" oder eine "Schwester" ist, oder aber, weil dieses Etikett fehlt, lediglich jemand, dem man "predigt", der im übrigen aber keiner freundschaftlichen Kontakte würdig ist.

Stattdessen tut man, was nur recht und billig ist, man beurteilt nämlich jeden unvoreingenommen danach, was er oder sie als Mensch ist. Wenn man so handelt, fühlt man sich wohler, denn wir wissen, "dass Gott nicht parteiisch ist, sondern dass für ihn in jeder Nation der Mensch, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, annehmbar ist". [18]

Für viele, die sich bemüht haben, der Stimme ihres Gewissens zu folgen, gehörte zu den schmerzhaftesten Erkenntnissen gewiss die, dass langjährige Freundschaften sehr schnell enden können und dass eine scheinbar von Liebe geprägte Atmosphäre unvermittelt in eisiges Misstrauen [326] umschlagen kann.

Eine Zeugin aus dem Süden der USA erkannte allmählich, wie weit sich die Organisation von den Lehren der Bibel entfernt hatte. Einer guten Bekannten sagte sie, dass sie trotzdem nicht daran denke, die Versammlung zu verlassen: "In unserer Versammlung sind so viele Menschen, mit denen ich persönlich die Bibel studiert und die ich in die Versammlung gebracht habe. Ich liebe sie und auch die anderen aus ganzem Herzen, und deswegen meine ich, dass ich bleiben sollte. Ich kann doch nicht einfach Menschen, die ich liebe, im Stich lassen."

Es dauerte nicht lange und die Ältesten merkten, dass sie bei einigen Lehren Zweifel hatte, und stellten ihre Loyalität in Frage. Beinahe schlagartig veränderte sich die allgemeine Einstellung ihr gegenüber. Sie wurde das Opfer versteckter Andeutungen und des Geschwätzes in der Versammlung. Sie sagt: "Auf einmal entdeckte ich, dass die vermeintliche tiefe Liebe nur von der einen Seite ausging. Einige, die mir sehr ans Herz gewachsen waren, zeigten mir plötzlich die kalte Schulter; sie wollten überhaupt nicht von mir wissen, was ich wirklich dachte."

Werden die Ehrfurcht, Hingabe und Aufrichtigkeit eines Menschen gegenüber Gott in den Schmutz gezogen – was die übelste Verleumdung ist, die man sich denken kann –, dann ist es schon eine erschreckende Erfahrung, wenn jemand, den man bis dahin für einen echten Freund gehalten hat, zu einem sagt: "Ich weiß nicht, was vorgefallen ist, und ich will es auch gar nicht wissen." Oder man hört, dass er zu anderen gesagt hat: "Ich kenne zwar die Fakten nicht, aber die Organisation wird schon ihre guten Gründe für ihr Vorgehen gehabt haben."

Vielzuviele Male stellt sich heraus, dass die vielgepriesene Liebe, die Teil des "geistigen Paradieses" sein soll, recht oberflächlich ist. Eine (noch aktive) Zeugin aus einem benachbarten Bundesstaat erzählte mir am Telefon, ihr Mann werde seit einiger Zeit von den Ältesten seiner Versammlung stark unter Druck gesetzt. Sie sagte: "Wenn sie auch nur das Geringste gegen ihn finden könnten, sie würden ihn am höchsten Baum aufhängen." Ich erwiderte, das erinnere mich an den Spruch: "Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr." Sie antwortete: "Du hast ja keine Ahnung, wie oft dieser Spruch bei uns schon gefallen ist."

Mir geht es genauso, wie eine Person es mir in einem Brief geschrieben hat, die kaltherzig zurückgestoßen wurde:

"Meine Freude war so groß, dass selbst der Schmerz verblasste, den ich empfand, als viele meiner langjährigen Freunde lieber solchen Geschichten glaubten, statt zu mir zu kommen und die Wahrheit herauszufinden ... und ich wusste auch, dass sie das nur aus Angst taten. Ich kann ihnen wirklich von Herzen vergeben, denn ich weiß genau, was in ihnen vorgeht. Im besten Fall glauben sie, ich hätte Jehova verlassen (weil ich mich aus seiner Organisation zurückgezogen habe), und im schlimmsten Fall meinen sie, Satan habe mich in die Irre geführt. In beiden Fällen wäre es ihnen unmöglich, mit mir Verbindung aufzunehmen. Falls ich ihnen oder sonst irgend jemand in der Organisation wehgetan haben sollte, so tut mir das aufrichtig leid. Ich liebe sie sehr und würde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie zu erreichen und ihnen zu erklären, was mit mir wirklich los ist." [327]

So denke auch ich. Wenn sich Gefühle der Zuneigung so leicht wie mit einem Schalter ein- und ausknipsen lassen, dann entspricht das nicht dem normalen Verhalten der Menschen, sondern ist das Ergebnis von Indoktrination.

Wie können wir für Gott annehmbar sein, ohne innerhalb einer organisierten Religion zu sein?

Wenn alle Brücken abbrechen, dann bleibt doch jene zu Christus und damit zu Gott offen passierbar!

Doch wie dem auch sei, wer als Zeuge Jehovas der Stimme seines Gewissen folgt, kann erleben, dass buchstäblich alle seine Freundschaften aus und vorbei sind. Dann muss man sich wirklich die Einstellung des Psalmisten zu eigen machen:

iconiconicon

"Falls mein eigener Vater oder meine eigene Mutter mich verließen, würde ja Jehova selbst mich aufnehmen." [19]

Nur ein klareres Bewusstsein der Freundschaft Gottes und seines Sohnes kann alles wettmachen und wird den Wert aller anderen Beziehungen ins rechte Licht rücken. Man kann sich getrost darauf verlassen, dass neue Freundschaften entstehen werden, sofern man bereit ist, die hierfür nötigen Anstrengungen zu unternehmen. Das mag zwar seine Zeit dauern, doch dafür werden sie wahrscheinlich viel stabiler sein, da die Zuneigung sich nicht auf die Mitgliedschaft in einer Organisation stützt, auf eine Art Vereinsgeist, sondern darauf, was für ein Mensch man ist, in welchem Maße man sich wie ein Christ verhält, wie es bei einem im Innern aussieht.

Ich habe meine Freunde durchaus nicht alle verloren, und für jeden, den ich doch verlor, habe ich einen neuen gewonnen. Es sind Menschen, die klar gesagt haben, dass sie Meinungsverschiedenheiten oder Unterschiede in den Ansichten nicht zum Abbruch der Freundschaft führen lassen wollen. So entspricht es dem biblischen Rat:

iconiconicon

"Erhebt euch nicht über die anderen, sondern seid immer freundlich und geduldig. Bemüht euch darum, die Einheit zu bewahren, die der Geist Gottes euch geschenkt hat. Der Frieden, der von Gott kommt, soll euch alle verbinden." [20]

Wenn man so lange daran gewöhnt war, Zahlen einen hohen Stellenwert beizumessen und in Zuwachsraten die angebliche Führung und den Segen Gottes zu sehen, dann ist es vielleicht nicht so einfach, auf diesem Gebiet etwas bescheidener zu werden und seine Ansprüche zurückzuschrauben. Möglicherweise gewinnt man erst jetzt ein inniges Verhältnis zu der Zusicherung Jesu, er werde dort anwesend sein, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind.

Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass das gemeinsame Lesen und Besprechen der Bibel mit nur einer oder zwei weiteren Personen äußerst befriedigend und ertragreich ist. Wenn es manchmal mehr Teilnehmer waren, waren zwar die Kommentare interessanter und vielfältiger, doch Gottes Wort hat auch dann, wenn wir nur "zwei oder drei" waren, dieselbe grundlegende stärkende und bereichernde Wirkung gehabt.

Ich muss ehrlich sagen, das hat mir jedesmal mehr an [328] Behaltenswertem gegeben als die vielen anderen Gelegenheiten in der Vergangenheit, wo ich als Beauftragter der Organisation mit Hunderten, Tausenden und Zehntausenden zusammen war.

Nur wer frei ist, kann und will seinen Glauben überprüfen! (2.Kor 13:5, 6)

Man braucht Glauben, um darauf zu vertrauen, dass es so kommen wird. Damit verhält es sich ähnlich wie mit einem anderen Aspekt der Freiheit, den das Eintreten für die biblische Wahrheit mit sich bringt. Dann halten wir uns nämlich nicht mehr an die streng vorgeschriebene Kost, die uns eine menschliche Organisation vorsetzt, sondern können selber das Wort Gottes wiederentdecken und erkennen, was es eigentlich alles enthält. Man glaubt gar nicht, wie wohltuend es sein kann, die Bibel zu lesen und sie einfach für sich selbst sprechen zu lassen, unbeeinflusst von menschlichen Überlieferungen.

Eine Zeugin aus den Südstaaten, die 47 Jahre lang regelmäßig jeden Monat ihren Tätigkeitsbericht abgegeben und ebenso lange alle Zusammenkünfte der Versammlung besucht hatte, berichtete, wie sehr das Bibellesen sie jetzt begeistert: "Nie habe ich den Wunsch verspürt, bis zwei Uhr morgens den Wachtturm zu lesen, doch genau das erlebe ich jetzt mit der Bibel."

Wer gewöhnt ist, an die Bibel mit komplizierten Auslegungen, verwickelten Argumentationssträngen und bildreichen allegorischen Deutungen heranzugehen, hat eventuell anfangs etwas Mühe, die geradlinige Einfachheit der biblischen Botschaft zu erkennen und sie so zu akzeptieren. Es mag erst Schwierigkeiten machen zu begreifen, dass Jesus es tatsächlich so meinte, wie er es sagte, als er den Grundsatz aussprach: "Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun" und dann fortfuhr: „- denn das ist das Gesetz und die Propheten." [21]

Das zeigt, dass die Absicht und der Sinn aller damals vorhandenen inspirierten Schriften darin lag, die Menschen lieben zu lehren. Es stimmt mit dem Ausspruch Jesu überein, an den beiden Geboten, Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben, "hängt das ganze Gesetz und die Propheten“. [22] Man beachte, dass hier nicht nur vom Gesetz, sondern auch von den Propheten die Rede ist.

Prophetie daraufhin untersuchen, ob sie wirklich im Einklang mit Gottes Wort ist!

Die Prophetie ist also nicht dazu da, in spekulative Auslegungen gepackt und auf phantasievolle Weise mit bestimmten Jahreszahlen und Ereignissen der Gegenwart verknüpft zu werden (die man dann öfter auswechseln muss, weil sie schon bald nicht mehr passen), noch soll sie für den prahlerischen Beweis des angeblich besonderen Verhältnisses einer Organisation zu Gott herhalten. Alle Prophetie ist dazu da, uns zu dem "Sohn der Liebe Gottes" zu führen, damit wir durch ihn lernen zu lieben und in der Liebe zu leben, so wie er in der Liebe lebte. Deshalb lesen wir auch: "Das Zeugnisgeben für Jesus ist das, was zum Prophezeien inspiriert.“ [23]

Jedesmal, wenn die Bibel zu anderen Zwecken benutzt wird, jedesmal, wenn Dogmatismus und sektiererische Argumentationsweise diesen einfachen Sinn der Schriften verschleiern und komplizieren, dann beweisen damit [329] diejenigen, die das tun, dass sie nicht begriffen haben, wozu die Bibel eigentlich da ist.

Wer meint, die erwähnten phantasievollen Auslegungen seien in Wahrheit "die tiefen Dinge Gottes", verrät damit, dass er den Sinn dieses biblischen Ausdrucks nicht verstanden hat. Als der Apostel Paulus ihn (im ersten Korintherbrief gebrauchte, hatte er kurz vorher gesagt:

iconiconicon

"Brüder, als ich zum erstenmal bei euch war und euch Gottes geheimnisvolle Wahrheit verkündete, tat ich dies ja auch nicht mit großartigen und tiefsinnigen Reden. Ich hatte mir vorgenommen, euch nichts anderes zu bringen als Jesus Christus, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten. Als schwacher Mensch trat ich vor euch und war voller Angst und Sorge. Mein Wort und meine Botschaft wirkten nicht durch Redekunst und Gedankenreichtum, sondern weil Gottes Geist darin seine Kraft erwies. Euer Glaube sollte sich nicht auf Menschenweisheit gründen, sondern auf Gottes Macht." [24]

Das ist genau das Gegenteil zu der Art von Lehre, die die Menschen von einer Organisation abhängig macht, die verwickelte und oft verwirrende Auslegungen von Prophezeiungen hervorbringt, die nur wenige erklären können, ohne gleichzeitig eine schriftliche Erläuterung in der Hand zu halten.

Sich in die Liebe des Christus hinein versenken: Das Erlernen wahrer Weisheit und ihrer Grundlagen!

Auch dies ist ein Segen, zu erkennen, dass die wahrhaft "tiefen Dinge" der Bibel damit zu tun haben, etwas über die "Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes" zu erfahren, die vor allem in seiner Barmherzigkeit durch Jesus Christus zum Ausdruck kommt, "dass er euch aus dem Reichtum seiner Herrlichkeit beschenkt und euch durch seinen Geist innerlich stark macht ... dass Christus durch das Vertrauen, das ihr zu ihm habt, in euch lebt, und dass ihr fest in der gegenseitigen Liebe wurzelt und euer ganzes Leben darauf baut ... (und erkennt), wie unermesslich die Liebe ist, die Christus zu uns hat und die alles Begreifen weit übersteigt. Dann wird die ganze göttliche Lebensmacht euch mehr und mehr erfüllen". [25]

Das ist der Kern der "guten Botschaft": dass Gott uns durch Christus und sein Loskaufsopfer Barmherzigkeit erwiesen hat. Das kann jeder nachprüfen, der an Hand einer Konkordanz die über 100 Stellen in der Bibel nachschlägt, in denen der Ausdruck "gute Botschaft" ("gute Nachricht", "Evangelium") vorkommt.

Achtmal ist von der guten Botschaft "vom Königreich" die Rede, doch viele, viele Male von der guten Botschaft "über den Christus". Dies deshalb, weil das Reich Gottes, der Ausdruck seiner königlichen Souveränität, sich ganz auf seinen Sohn und alles, was er durch ihn getan hat und noch tun wird, konzentriert. Nicht auf eine menschliche Organisation, sondern auf Jesus Christus sollen wir unsere Aufmerksamkeit und unser Interesse richten, denn "in ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis sorgsam verborgen." [26]

Was einem manchmal an Auslegung [330] biblischer Prophetie geboten wird, und sei es noch so kunstreich, geheimnisumwoben oder ausgefallen formuliert, das ist wirklich reichlich schal und oberflächlich, sobald man die Ergebnisse von Studium, Nachsinnen und Gebet dagegenhält, bei denen es darum geht, die Tiefe der Barmherzigkeit, der Liebe und der Güte Gottes besser zu erfassen.

Es macht richtig Freude, in Gottes Wort lesen zu können, ohne in sich ständig den Drang zu spüren, bei jeder Passage müsse gleich ganz genau die Bedeutung festgelegt und jeder prophetische Ausspruch mit einer "amtlichen" Deutung versehen werden. Schließlich gilt auch heute noch, was Paulus schrieb:

iconiconicon

"Denn wir erkennen teilweise, und wir prophezeien teilweise; wenn aber das Vollständige gekommen ist, wird das Teilweise weggetan werden .... Denn jetzt sehen wir mit Hilfe eines metallenen Spiegels in verschwommenen Umrissen, dann aber wird es von Angesicht zu Angesicht sein. Jetzt erkenne ich teilweise, dann aber werde ich genau erkennen, so wie ich genau erkannt worden bin. Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe." [27]

Wenn durch unser Bibellesen unsere Liebe zu Gott, zu seinem Sohn und zu unseren Mitmenschen vertieft wird, dann hat es ganz sicher seinen Hauptzweck erfüllt. Vieles in der Bibel ist so ausgedrückt, dass es mehrere Deutungen zulässt, die alle gleichermaßen mit der übrigen Bibel in Einklang stehen und den Glauben, die Hoffnung und die Liebe in gleicher Weise fördern. Warum sollte man dann starrköpfig auf einer dieser Möglichkeiten als der einzig richtigen bestehen? Das ist der Irrweg der Sekten.

Sehr schön drückte das jemand von einer Insel im Pazifik aus. Sie schrieb mir:

"Ich will keine Lehre mehr glauben, die ich für falsch halte, und werde für das eintreten, was meiner Meinung nach richtig ist, doch ich kann nicht länger andere richten, die Gott lieben, und ich kann nicht mehr meinen, ich sei etwas Besseres als sie, weil ich Dinge weiß, die sie nicht wissen. Gott berücksichtigt, in welcher Ausgangsposition sich jeder befindet. In manchen Dingen haben wir alle verkehrte Ansichten, und wenn wir einander richten, uns vergleichen, miteinander in Konkurrenz treten und uns von anderen absondern, die auch Gott lieben und ihn suchen, dann folgen wir nicht Gottes Weg.

Sein Weg ist die Liebe, die vereint und heilt und eine Menge Sünden und Irrtümer zudeckt. Irgendwann werden wir alle die ganze Wahrheit verstehen, doch bis es soweit ist, müssen wir mit anderen teilen, was wir haben, anderen helfen und Kraft geben, und keine Gräben ziehen."

Wozu endlos über Einzelfragen debattieren, wenn die Bibel doch über so viele Dinge nichts Eindeutiges sagt? Wem hilft das denn? Die Kernfrage bleibt doch stets, was wir für Menschen sind. In welchem Maß spiegeln wir die Eigenschaften unseres himmlischen Vaters und seines Sohnes wieder? Ist unsere Lebensweise, unser Verhalten im Umgang mit anderen, ein lebendiges Beispiel für die Wahrheit der Bibel? Von Gott kann eine Lehre – [331] werde sie nun von einer Organisation oder von einem einzelnen Menschen verkündet – nur stammen, wenn sie bei uns bewirkt, dass wir gegen andere mitfühlend, rücksichtsvoll und hilfreich sind, denn "wir haben dieses Gebot von ihm, dass der, der Gott liebt, auch seinen Bruder liebe". [28]

Manche fragen: Wohin soll ich gehen? Was soll ich werden?

Ich spüre kein Verlangen, irgendwohin zu "gehen", denn ich weiß, wer "Worte ewigen Lebens" hat. [29] Ich bin dankbar für die stärkende Gemeinschaft mit allen, die mit mir persönlich oder brieflich in Kontakt stehen, und hoffe, auch weiterhin Menschen kennenzulernen, denen die Wahrheit wichtig ist, und zwar nicht bloß vom Aspekt der Lehre her, sondern als eine Lebensweise. [30]

Ich versuche also, ganz einfach Christ zu sein, ein Jünger des Gottessohns. Ich verstehe nicht, wie man irgend etwas anderes sein wollte. Und ich kann auch nicht begreifen, wie jemand hoffen kann, je mehr zu sein.

Rückblick auf die Vergangenheit und Fehler, die man inzwischen einsieht und abgelegt hat

Die Vergangenheit soll ruhen. Für vieles bin ich dankbar, bedauern muss ich nur weniges. Die Schwere von Fehlern sei damit nicht heruntergespielt. Wenn die Lebensuhr fast abgelaufen ist, kann sich umso schmerzlicher auswirken, was man in der Vergangenheit bei seinen Entscheidungen falsch gemacht hat.

Die harten Zeiten, die ich durchgemacht habe, bedauere ich nicht, weil ich glaube, dass sie mich wertvolle Dinge gelehrt haben.

Unangebracht dagegen war, dass ich einer menschlichen Organisation mein Vertrauen schenkte. Nachdem ich mich den größten Teil meines Lebens abgemüht hatte, Menschen zu Gott und seinem Sohn zu führen, musste ich feststellen, dass diese Organisation mit ihnen umgeht, als wären sie ihre eigene Herde, die ihr zu gehorchen hat und ihr zu Willen sein muss.

Dessenungeachtet bin ich froh zu wissen, dass ich sie stets ermuntert habe, ihren Glauben auf die sichere Grundlage des Wortes Gottes zu stellen. Ich hoffe, dass all die Mühe nicht vergebens gewesen sein wird.

Andere in meinem Alter denken an den Ruhestand, doch ich muss einen Neuanfang wagen, um für meine Frau und mich zu sorgen. Ich kann aber, genau wie der Bibelschreiber, "zuversichtlich sagen: ‚Der Herr steht mir bei; nun fürchte ich nichts mehr. Was könnte ein Mensch mir schon antun?’ " [31] Ich bedauere in keiner Weise, der Stimme meines Gewissens gefolgt zu sein. Die guten Auswirkungen wiegen alles Unerfreuliche bei weitem auf.

So manche frühe Entscheidung, die ich auf Grund einer unrichtigen Darstellung des Willens Gottes getroffen habe, hat Auswirkungen, die sich wohl nicht mehr rückgängig machen lassen. Mir wird immer noch ganz unwohl, wenn ich daran denke, dass ich eine Frau zurücklassen muss, die weder Sohn noch Tochter hat, von denen sie Zuwendung und Unterstützung erhalten könnte, sowohl emotional wie wirtschaftlich. Wie weit ich selbst [332] dazu in den verbleibenden Jahren noch in der Lage sein werde, weiß ich nicht. Doch unsere Hoffnungen sind auf die fernere Zukunft gerichtet, nicht nur auf die unmittelbar vor uns liegende Zeit, und die Verheißungen Gottes für diese Zeit geben uns Herzensfrieden.

So wie ihr urteilt, so werdet ihr beurteilt werden!

Über diejenigen ein Urteil zu sprechen, die sich von mir distanziert haben, dazu fühle ich mich genauso wenig berechtigt, wie ich meine, dass sie ein Recht hatten, mich zu verurteilen. Ich will das auch gar nicht. Das ändert allerdings nichts daran, dass ihr Handeln mir zum Teil unbegreiflich ist. Ich wünsche ihnen von Herzen, dass die Zukunft ihnen bessere Zeiten beschert, denn meiner Meinung nach könnten sie viel tun, um ihren Horizont und ihre ganze Einstellung zum Leben zu erweitern, wodurch ihr gesamtes Dasein enorm bereichert und mit tieferem Sinn erfüllt würde.

Ich hoffe, ich habe aus meinen Fehlern gelernt. Zwar werde ich bestimmt weitere machen, doch ich bin zuversichtlich, dass sie nicht mehr so schlimm sein werden, so dass es anderen wie mir zum Guten gereicht. Dass ich mich nicht persönlich entschuldigen kann bei manchen, denen ich auf irgendeine Weise Unrecht getan habe, tut mir leid, doch ich bete, dass kein bleibender Schaden entsteht, und ich vertraue Gott all die Dinge an, auf die ich keinen Einfluss habe. Meine Frau und ich hoffen, dass wir die verbleibenden Jahre in Frieden verbringen können und dass Gott unser vereintes Bemühen, ihm alle Tage zu dienen, segnen wird.

Edward Dunlap machte sich nach seinem Hinauswurf aus der Weltzentrale auf den Weg nach Oklahoma City, um mit 69 Jahren ein neues Leben zu beginnen. Als er in Alabama vorbeikam, unterhielten wir uns und er sagte:

"Ich glaube, alles was man tun kann, ist zu versuchen, ein christliches Leben zu führen und denen zu helfen, die man in seinem Alltag erreichen kann. Alles andere liegt in Gottes Hand."

Ich bin dankbar dafür, dass ich Informationen weitergeben konnte, auf die andere meines Erachtens ein Anrecht haben. Noch viel mehr könnte gesagt werden, ja müsste vielleicht gesagt werden, damit man sich ein vollständiges Bild machen kann. Ob mir das vergönnt sein wird, weiß ich nicht. [32] Mir genügt es, all das, was sich aus dem bereits Gesagten ergeben wird, in Gottes Hände zu legen. [333]

____________________________________

Fußnoten zu Kapitel 12:

[1] 1. Korinther 3:6, 7; 2. Korinther 4:7, 15; 6:10.

[2] 2. Korinther 5:14.

[3] 1. Johannes 4:11 Die Bibel in heutigem Deutsch.

[4] Matthäus 11:28-30.

[5] Wachtturm vom 15. April 1952, S. 122.

[6] Wachtturm vom 1. Oktober 1973, S. 594.

[7] Matthäus 10:17, 21; Markus 13:9-12; Lukas 21:16.

[8] Apostelgeschichte 10:35

[9] Unter anderem hat Lloyd Barry die Bücher "Die gute Botschaft, die Menschen glücklich macht" (1976) und „Dein Königreich komme" (1981) geschrieben.

[10] Zu diesen dreien wäre eigentlich Grant Suiter hinzuzuzählen gewesen, vor allem, weil er schon so lange eine leitende Funktion in der Gesellschaft hatte. Im Jahre 1983 erlitt er jedoch einen tragischen Unfall, durch den er vollständig gelähmt wurde. Wenige Monate später starb er.

[11] Nicht nur die verschiedenen Bibelforscher-Vereinigungen, die teilweise international vertreten sind, sondern auch einige Gruppierungen der Church of God vertreten in diesen Punkten fast haargenau dieselben Glaubensansichten. Die Adventisten glauben, dass die Seele schläft, leugnen die ewige Qual und glauben an eine paradiesische Erde unter der Herrschaft des Königreiches Christi.

[12] Galater 5:1, 13, 14; 1. Korinther 9:1, 19; Kolosser 3:17; 23-25.

[13] Matthäus 11:28-30; Markus 9:36, 37; 10:13-16; Lukas 15:1-7; Johannes 15:11-15.

[14] Psalm 31:11-16; 55:2-6, 12-14, 22; 60:11, 12; 94:17-22; Römer 5:1-11; 8:31-39.

[15] Matthäus 28:20, Wilckens.

[16] 2. Timotheus 2:19, Einheitsübersetzung.

[17] Vergleiche Matthäus 13:37-43 mit Römer 2:5-10, 16; 14:10-12, 1. Korinther 4:3-5, 2. Korinther 5:10; 10:12, 18; 2. Timotheus 4:1.

[18] Apostelgeschichte 10:34, 35.

[19] Psalm 27:10; vergleiche Psalm 31:11; 50:20; 69:8, 9, 20; 73:25, 28.

[20] Epheser 4:2, 3, Die Bibel in heutigem Deutsch.

[21] Matthäus 7:12, Jerusalemer Bibel.

[22] Matthäus 22:40 Jerusalemer Bibel.

[23] Offenbarung 19:10.

[24] 1. Korinther 2: 1-5,10, Die Bibel in heutigem Deutsch.

[25] Römer 11:33; Epheser 3:16-19, Die Bibel in heutigem Deutsch.

[26] Kolosser 2:3.

[27] 1. Korinther 13:9, 10, 12, 13.

[28] 1. Johannes 4:21

[29] Johannes 6:68.

[30] Johannes 3:18.

[31] Hebräer 13:6, Die Bibel in heutigem Deutsch.

[32] Anm. d. Übers.: Ende 1991 erschien ein weiteres, 736 Seiten umfassendes Werk des Verfassers unter dem Titel "In Search of Christian Freedom" (dt.: "Auf der Suche nach christlicher Freiheit") (Commentary Press, Atlanta).